Wenn Intuition das Herz berührt

Für eine würdige Abschiedsfeier von meiner Mutter waren wir auf der Suche nach der stimmigen Person. Ich persönlich bin eher kritisch gegenüber der katholischen Kirche, aber mit Irene Meyer Müller wurde ich sofort warm. Mehrere Menschen in meinem Umfeld haben unabhängig voneinander gesagt, diese Abschiedsfeier war die schönste ihres Lebens. Meine Neugierde wurde immer grösser und ich wollte mehr über sie erfahren. Auf einem sonnigen Winterspaziergang hat sie mir von ihrem inspirierenden Berufsweg erzählt.

Irene Meyer Müller

"Bei meiner Arbeit kann ich meine persönlichen Werte leben, auch dank meinem fortschrittlichem Vorgesetzen. Freiheit ist mir sehr wichtig, ich bin zu alt um mich zu verbiegen und habe noch viele Ideen."

Irene Meyer Müller hatte neben ihrer Familie immer auch auswärts gearbeitet und sich weitergebildet. Langsam aber sicher offenbaren die Puzzlesteine ihrer Erfahrungen und Talente ihr volles Potential.

Peter: In jeder Situation hat man drei Möglichkeiten: akzeptieren, verändern oder verlassen. Hast du von der Gesundheitsbranche zur Kirche gewechselt, weil du dort mehr verändern kannst?

Irene: Vieles hat sich ergeben, ich hatte nie weit vorausgeplant. Auf meinem ersten Beruf in der Krankenpflege habe ich nur wenige Jahre gearbeitet. Aus gesundheitlichen Gründen wechselte ich in eine Lehrtätigkeit, die ich 16 Jahre lang ausübte. Die Arbeit mit den jungen Menschen bereitete mit Freude. Es störte mich zunehmend und verletzte mich, dass wir als Pflegefachpersonen und als Ausbildungsinstitut für Pflege in der politischen Diskussion vor allem als Kostenfaktor wahrgenommen wurden, Wertschätzung wurde wenig zum Ausdruck gebracht.

Bei der Begleitung der praktischen Prüfungen wurde mir bewusst, dass meine Kritik nicht die Lehrlinge betrifft, sondern die Pflegekultur und die Möglichkeiten auf der Abteilung. Es lag nicht in meiner Macht, die Wertehaltung gegenüber der Pflege zu ändern. Ich konnte nicht mehr eine Lehrtätigkeit vertreten, für eine Arbeit, die ich selber so nicht ausführen wollte. Also habe ich gekündigt und mir eine Pause gegönnt.

Für diese Auszeit hatte ich bereits eine Idee. Theologie hatte mich schon in den Anfängen meiner Berufserfahrung interessiert, ich fühlt mich aber damals noch nicht reif dazu. Zudem liessen mich die Fragen nicht los: Was hilft uns gesund zu bleiben? Wie können wir unsere Ressourcen präventiver einsetzen? Jetzt stimmte der Zeitpunkt um Religionspädagogik zu studieren, allerdings ohne das Ziel, später in diesem Gebiet zu arbeiten. Eigentlich wollte ich gleich weitermachen und Theologie studieren. Doch dafür hätte ich nach zwei Jahren meine Arbeitsstelle in der Pfarrei wieder aufgeben müssen, dabei hatte ich mich erst richtig eingelebt. Darum bin ich geblieben.

Peter: Viele Menschen treten aus der Kirche aus. Bestehen für dich keine Interessenskonflikte mit deinem Arbeitgeber?

Irene: Natürlich bin ich manchmal frustriert, über Bedingungen und Aussagen der Kirchenleitung. Für meine Arbeit ist aber die lokale Filiale entscheidend, so geht es auch vielen MitarbeiterInnen von globalen Konzernen und Grossbanken, die einfach in einem guten Team, einer spannenden Arbeit nachgehen. Bei diesem Arbeitgeber habe ich in meinem Alltag sehr viele Freiheiten. Wer sonst setzt sich noch ein für eine würdevolle Begleitung von älteren Menschen? Die Kirche hat grossartige Infrastruktur an zentraler Lage und bietet den Rahmen für echte Gemeinschaft. Statt in der Haltung von hohen Würdenträgern, finde ich mein Leitbild in ursprünglichen Bibeltexten. Es beginnt bei «Liebe Gott und deinen Nächsten wie dich selbst». Das tönt so einfach und ist so schwer. Darin spiegelt sich so viel Verantwortung, Annahme, Verständnis und Demut gegenüber allem was ist und war und kommen wird. Und in diesem Respekt möchte ich leben.

Peter: Was denkst du, wieso berührst du mit einer Art und deinen Worten die Herzen der Menschen?

Bei der Vorbereitung verlasse ich mich ganz auf meine Intuition. Ich kann lange warten, bis die Worte durch mich hindurchfliessen. Ich bin manchmal selber überrascht, wie Formulierungen im Rückblick sehr passend wirken. Und wenn mich Menschen auf bestimmte Passagen ansprechen, kann ich mich kaum erinnern, weil die Worte nicht dem Verstand entstammen.


Peter: Du gestaltest aktiv deine Arbeit und veränderst einen Beruf, welcher sehr konservativ geprägt ist. Was dürfen wir als nächstes von dir erwarten?

Irene: Meine Arbeit in der Pfarrei gefällt mir sehr, vor allem der Kontakt mit vielen Menschen in ganz unterschiedlichen Lebenssituationen. Als Seelsorgende führen wir fast immer Gespräche, die sich mit ganz tiefgründigen Themen des Lebens befassen. Das erfüllt mich. Vor ein paar Jahren habe ich eine Ausbildung in Poesie- und Bibliotherapie gemacht. In der Poesietherapie werden Menschen angeregt Texte zu verfassen und darüber zu sprechen. Im Schreiben können eine neue Organisation von Gedanken, eine emotionale Klärung und Entlastung geschehen. Für mich persönlich war diese Arbeit sehr heilsam. Ich habe damit meine Angst verloren, frei vor grossen Gruppen von Menschen zu sprechen. Diese Erfahrung möchte ich gerne mit anderen Menschen teilen. Ich habe bereits einen Kurs in der Pfarrei ausgeschrieben.

Peter: Zum Schluss. Hast Du eine Empfehlung für all jene, welche ihre Arbeit ebenso aktiv mitgestalten wollen, aber sich vielleicht noch nicht getrauen?

Irene: In meinen ersten Arbeitsstellen als junger Mensch fühlte ich mich sehr hilflos gegenüber Autoritätspersonen, die ich als sehr einengend empfand. Ich habe gelernt, über meine Werte und Visionen zu sprechen und nicht locker zu lassen, wenn ich nicht gehört werde. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass eine gute Führungsperson die Initiative der Mitarbeitenden schätzt und ihr Mitdenken und Mitgestalten fördert. Manchmal braucht es einen Wechsel, wenn dies nicht möglich ist. Aus der Supervision in schwierigen Situationen habe ich mitgenommen: Erwarte nicht, dass es dir gelingt, deinen Chef oder deine Chefin zu ändern. Suche eine andere oder werde selbst eine Führungsperson, wie du sie gerne haben möchtest.