88 Stunden allein im Wald

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Eine Auszeit vom 27. September bis 1. Oktober 2021

Aus Versehen hatte ich meine Herbstferien falsch eingetragen, was jetzt plötzlich perfekt passte. Es war wieder einmal Zeit ganz für mich. Ich wollte schon als Jugendlicher allein unter freiem Himmel im Wald übernachten. Damals hätte ich wohl nicht den Mut gehabt, gleich noch zu fasten, und nicht die Reife, die Zeit sehr meditativ zu verbringen. Mehr als die Hälfte der Zeit war eher anstrengend, aber diesen Donnerstag an der Sonne werde ich nie vergessen: bedingungslos glücklich und zufrieden.

Meine Tochter war im Sommer in einem Woniya Naturlager. Ein Lagerleiter erzählte mir von ihrem Angebot "Visionssuche", bei dem man begleitet mehrere Tage mit Fasten im Wald verbringt. Diese Idee hatte mich gepackt, aber es gab gerade keine Angebote.

Vorbereitungen

Mit meiner zehn Tage Vipassana-Meditations- Erfahrung und meiner Jugenderfahrung als Pfadfinder traute ich mir das allein zu. Also fragte ich nach, ob sie mich individuell beraten können. Ich bekam Koordinaten für einen passenden Ort und den Hinweis, dass während meinen Herbstferien in Graubünden Hochwildjagd sei. Also suchte ich lokal nach einem passenden Ort, obwohl auch bei uns im Seetal im Herbst Jagdsaison ist. Wegen dem Fasten habe ich mich im Internet schlau gemacht.

Intuitiv wusste ich, welcher Wald für mich passte. Eine Woche vor dem Projekt fand ich dort einen passenden Ort, der von keiner Waldstrasse aus sichtbar ist, und doch genügend Licht und unbewachsenem Boden zum Schlafen und Meditieren hat.

Am Montagmorgen ass ich noch einen Hafer-Porridge, die letzte Mahlzeit für die nächsten vier Tage. Am Mittag kochte ich zwei Liter frische Gemüse-Bouillon, die ich als besten Tipp aus dem Internet fürs Fasten bewertete. Ich packte meine Velotaschen voll mit zehn Litern Wasser, Luftmatratze, Schlafsack, Zeltblache, warme Kleider und meinem Meditationskissen. Um 16 Uhr verabschiedete ich mich von meiner Familie und fuhr Richtung Westen.

Einwärm-Phase

Im Wald richtete ich mich ein, startete mit der Meditation und ging früh schlafen. Der Wald war in der Nacht ruhiger als ich erwartete. Erst jetzt erinnerte ich mich, dass ich diesen Wunsch, ein paar Tage allein im Wald zu verbringen, schon als Jugendlicher hatte. Wieso ich das nie gemacht habe, obwohl ich damals weniger Verpflichtungen hatte, kann ich mir nicht erklären.

Die Nacht im warmen Schlafsack war angenehm, aber am Morgen war es recht kühl. Ich genoss die warme Bouillon. Bald wurde klar, dass es mir zu kalt war, um den ganzen Tag im Sitzen zu meditieren. Ich entschied mich für eine Gehmeditation, ein langsames, achtsames Spazieren. Das fand ich sehr beeindruckend, weil ich so den Wald ganz anders wahrnehmen konnte als mit einem normalem Marschtempo. Ich froh um diese Alternative, denn nur zu hätte ich wahrscheinlich nicht lange ausgehalten.

Ganz in der Nähe vom Schlafplatz gab es eine Holzbank mit Morgensonne. Dort sass ich lange und meditierte an der Sonne. Es war kein starres Meditieren waren. Ich hatte die Augen viel offen, beobachtete meinen Atem und die Umgebung und versucht möglichst nicht an Gedanken festzuhalten.

Am Nachmittag kamen die ersten starken Zweifel, d.h. ich hatte am Morgen schon eine Krise, aber diese konnte ich noch ignorieren. Jetzt kamen immer mehr Ideen, wie man seine Ferien mit mehr Vergnügen verbringen könnte, was das Ganze für einen Sinn haben soll und vor allem, wie unendlich lange das noch geht bis zum geplanten Freitagmorgen. Eigentlich hatte ich keine Erwartungen, oder doch? Der Titel von diesem Naturschule Woniya-Angebot hiess doch Visions-Suche. Es musste also um eine spezielle Erkenntnis gehen. Diese Erwartung liess ich dann los und es ging mir schon viel besser.

Minimale Ablenkung vs. Abenteuerlust

In der Nacht auf Mittwoch wurde ich von leichtem Regen geweckt. Ich stand auf und spannte die Zeltblache. Als ich wieder im Schlafsack war, schlug die Kirche Mitternacht, das erste Mal, dass ich die Kirchenglocken so klar wahrnahm.

Ich glaube es war in dieser Nacht, als ich in der Nähe ein Grunzen hörte, wie von einem Schwein, also einem Wildschwein. Daran hatte ich gar nicht gedacht, dass es im Luzerner Wald nicht nur scheue Tiere gibt, sondern auch Wildschwein-Eber; so einem möchte ich nicht allein begegnen. Schon der nächste Ton gab Entwarnung, es war ganz klar ein Vogel, der so ähnlich tönte.

Am nächsten Morgen hörte ich ein heiseres Bellen. Das mussten Rehe oder Hirsche sein. Bei meinem Eintreffen aus dem Dickicht auf die Waldstrasse sah ich bei der Weggabelung mit der Holzbank drei Rehe stehen. Sie entdeckten mich schnell und sprangen davon. Meine Stimmung war immer noch wechselreich und ich spielte mit dem Gedanken, früher nach Hause zu gehen. Der sonnige Morgen, von dem ich viel Zeit auf dieser Holzbank verbrachte, gefiel mir aber sehr gut. Aus den Regeln der Vipassana-Meditation war mir die grösstmögliche Reduktion von Ablenkung geblieben. Deshalb drehte ich immer die gleiche Runde, die ich bald sehr gut kannte und mich so besser auf den Atem konzentrieren konnte. Dieser kleine Weg Richtung Süden ins dichte Unterholz machte mich aber neugierig. Schliesslich setzte ich hier meine eigenen Regeln und ich zweigte ab. Der Weg war wirklich spannend, schien immer wieder zu enden und führte trotzdem weiter, bis ich irgendwann wieder auf eine Waldstrasse kam. Von dort gelangte ich relativ schnell zum Waldrand und erblickte Neudorf. Ich hörte ein Hämmern, sah Verkehr ins Dorf reinfahren und wieder raus, sonst schien alles tot zu sein, aus dieser Distanz. Ich hatte das Gefühl, die Welt von oben zu betrachten. In meinem Gedanken formten sich die zwei Sätze: "Ich brauche diese Welt nicht." und "Die Welt braucht mich nicht." Etwas krass vielleicht, aber ganz im Moment war es Realität, ausser dass ich natürlich auf der Erde stand. Aber in diesen vier Tagen brauchte ich sonst keine weiteren Ressourcen als das, was ich bei mir hatte und Luft zum Atmen. Ich fragte mich, wie sich mit diesem Leitsatz mein Leben verändern würde und ob das klug wäre?

An diesem Tag entfernte ich mich noch weiter von meinem Lagerplatz, bis zum Naturschutzgebiet Vogelmoos. Dort war allerdings die Besucherdichte etwas zu hoch für mein Experiment der Ruhe. Ich kannte sogar Menschen und kam ins Gespräch. Das war zwar schön, aber in dieser Situation zu viel, das wollte ich nicht. Am Abend regnete es schon beim Eindunkeln, so spannte ich die Zeltblache schon vor dem Schlafengehen. In dieser Nacht hatte ich kalte Füsse, obwohl am Schlafsack steht bis +1 °C. War es wirklich so kalt geworden oder war ich empfindlicher, weil ich mit dem Fasten Körpergewicht verloren hatte? Ich zog mir warme Socken an und das half. Ich war erstaunt, wie wenig mir das Fasten ausmachte. Ich werde sonst eher ungeduldig, wenn es länger bis zum Essen dauert, aber jetzt verspürte ich kaum je Hunger. Dieses Fasten bedeutete für mich eine unglaubliche Freiheit, ich musste mich um nichts kümmern.

Ein Tag an der Sonne

Auch am Donnerstagmorgen kam nochmals der Gedanke auf, vielleicht schon früher nach Hause zu gehen, aber dann drehte sich der Wind. Ich ging morgens um sieben Richtung Osten, um den Sonnenaufgang zu betrachten. Er versprach mir einen goldenen Herbsttag wie aus dem Bilderbuch. Anschliessend war ich nochmals im Vogelmoos, jetzt fast allein, nur ein schicker Herr mit Hund kreuzte meinen Weg und eine Frau erzählte mir von ihrem neuen Hobby, Sonnenaufgänge zu sammeln, "sehr schön" sagte ich und genoss noch für ein paar Minuten diesen wunderbaren Ort. Um ca. neun war ich zurück bei "meiner" Holzbank, die voll in der Sonne stand. Ich verbrachte den ganzen Morgen auf dieser Bank und genoss einfach diese wunderbare Sonnenwärme. Irgendwann nach dem Mittag verdeckten Äste die Sonne. Ich holte am Lagerplatz neues Wasser und nahm wieder diesen Weg ins Dickicht. Alle diese Strassen in diesem Wald haben Namen. So wusste ich, dass die rechte Strasse zu dieser Querstrasse vor dem Vogelmoos führte, weil ich den Namen schon auf der anderen Seite gelesen hatte. Und diese Strasse hatte viel Jungwald, also viel Sonne. Dann bog ich rechts in den kahlen Fichtenwald auf einen nicht verdichteten Traktorenweg ein. Dieser wurde schmaler und führte dann an den Waldrand zu einen Jäger-Hochsitz. Daneben hatte es ein Bänkli, gebastelt aus Buchenästen und Schnüren mit Sicht Richtung Südwesten, perfekt für freie Sonne bis am Abend.

Es wurde zu meinem längsten, je erlebten Sonnenuntergang, von halb drei bis ca. halb acht. Ich hatte zwar keine Uhr dabei, aber zwischendurch machte ich ein Smartphone-Foto, natürlich im Flugmodus, ich schaltete das Ding erstmals zuhause wieder ein. Es gab kurze Momente der Langeweile, was ich sonst im Alltag nicht kenne. Sobald ich die Gedanken der Zeitrechnung wieder losliess und die Natur beobachtete, verschwand diese Langeweile sofort. Ich schaute zu, wie Schmetterlinge tanzten, wie eine Libelle an einem Baum hochkletterte, wie Käfer über die Erde huschten ein Maulwurf irgendetwas suchte und die Vögel ihre Runden zogen. Von hier aus erschien der Hügel von Neudorf in Richtung Blosenberg recht flach. Irgendwo dort drüben ist das Wiholz, der Bauernhof, auf dem meine Grossmutter aufgewachsen ist. Von ihr habe ich das Schneller-ist-Besser-Gen geerbt. Das hat mich weit gebracht, kann aber auch stressig sein und darf sich jetzt langsam verändern.

Gegen Abend sah ich auch noch ein paar Kleinflugzeugen zu, wie sie zum Landeanflug auf Beromünster ansetzen, bis die Sonne ganz weg war und sich der Himmel wunderschön in rot und orange färbte. Dann ging ich gemächlich nochmals zum Vogelmoos, diesmal hatte ich es ganz allein für mich. Auf dem Rückweg wurde es immer dunkler. Auf der Waldstrasse, alle mit Fahrverbot, kam mir ein Auto entgegen. Ich regte mich einen kurzen Moment auf, und erinnerte mich, dass ich auch gerade illegal wohnte. Eigentlich müsste man den Waldbesitzer fragen. Ich fand allerdings das Risiko zu gross, nicht verstanden zu werden. Bei einer negativen Antwort hätte ich dann Mühe es trotzdem zu tun. Weil ich an diesem Platz kein Feuer entfachte, keine Pflanzen zertreten musste und natürlich keinen Abfall liegen liess, konnte ich es verantworten ein bisschen illegal zu sein. Trotzdem besten Dank an die Korporation Beromünster für das Gastrecht.

Nächtliche Rückkehr

Als ich in dieser letzten Nacht im Dunkeln nach Hause kam, lag mein Matte anders da, die Wolldecke und das Meditationskissen daneben. Der Rest schien nicht angetastet. Einen Moment erschrak ich, weil ich mich entdeckt fühlte. Ich konnte das aber gleich wieder loslassen, denn ich stand zu dem, was ich machte und hätte mich bei Bedarf entschuldigt oder eine Busse bezahlt. Wahrscheinlich war es ein wildes Tier, welches in der Zwischenzeit damit gespielt hatte.

Auf diesem Nachtspaziergang hatte ich dann doch noch ein paar spannende Erkenntnisse über Freundschaft und Arbeit. Erwartungen loslassen heisst also nicht, dass sie dann nicht eintreffen.

Am Freitag erwachte ich schon morgens um vier Uhr. Ich musste kurz das Smartphone einschalten, um die Zeit zu sehen, und konnte nochmals einschlafen. Um sechs stand ich dann auf und spazierte überglücklich nochmals Richtung Sonnenaufgang, ich war seit gestern richtig verliebt in die Sonne. Das Morgenlicht war wunderschön und es dauerte mehr als eine halbe Stunde, bis die Sonne wirklich zum Vorschein kam. Es war bezaubernd das Nebelmeer und die Berg-Silhouette in dieser Morgenstille zu beobachten. Ich glaube ich habe vorher noch nie in meinem Leben allein mehr als 30 Minuten einen Sonnenaufgang beobachtet.

Auf dem Rückweg zum Nachtlager traf ich nochmals ein Reh, das einzige Mal nur eines, sonst waren es immer mindestens zwei. Ich drehte noch ein kurzes Video, packte meine Sachen und ging zur Holzbank, um dort noch die letzte halbe Stunde zu verbringen, bevor ich nach 88 Stunden im Wald wieder zurück ins Nebelmeer fuhr. Ich freute mich sehr, meine Familie wieder zu sehen. Als erstes trank ich Kaffee mit meiner Frau, dann knabberte ich langsam einen Apfel und am Mittag ass ich wieder voll mit. Ich hatte schliesslich fünf Kilo abgenommen, die musste ich schnell wieder reinholen.

Rückblick und Ermutigung

Meine Welt hat sich durch diese Erfahrung nicht komplett verändert, aber ich wurde noch demütiger gegenüber der Natur, noch dankbarer für das, was ich alles habe, bin noch vertrauter mit meiner Intuition und lebe noch mehr im Vertrauen, dass alles in mein Leben kommt, was ich brauche, um glücklich zu sein. Und Ich möchte diese Ruhe und Gelassenheit mit in meinen Alltag nehmen. Und wenn ich jetzt mal wieder dringenden Hunger habe weiss ich: ich kann noch mindestens vier Tage ohne Essen sein.

Ich erzähle diese Geschichte nicht, um dich zu motivieren das Gleiche oder etwas Ähnliches zu tun, sondern um dich zu ermutigen, deine Idee zu verwirklichen. Du hast sicher auch Ideen, was du schon lange erleben möchtest, aber du hast vielleicht keine Zeit, traust es dir nicht zu, dein Umfeld wäre nicht einverstanden oder das Geld fehlt. Bei mir hat sich jedes Mal alles wunderbar ergeben, wieso sollte es bei dir anders sein? Plane deine Idee ein, überlege dir Details, sprich mit engen Freunden oder deiner Familie darüber und mach es einfach. Es lohnt sich, auch wenn der Weg dazu manchmal anstrengend ist. Falls du denkst, du schaffst es nicht allein, darfst du mich gerne anrufen.