Zwischen Frust und Glücksgefühlen

Neun Tage Vipassana Meditation - ein ganz persönlicher Erfahrungsbericht

Es war schon krass, mit 27 anderen Menschen zehn Tage zusammen in einem Haus zu wohnen, davon täglich zehn Stunden gemeinsam in einem Raum zu verbringen, zweimal miteinander zu essen und dabei kein Wort zu sprechen, nicht einmal Augenkontakt zu haben. Ohne diese Regeln wären wir aber niemals in diese innere Ruhe gekommen, wir hätten uns über alles Mögliche ausgetauscht, und unser Gedankenstrom hätte wieder um das Vielfache mehr Ideen zum Planen, Grübeln und Vergleichen geliefert. Es war eindrücklich in einem vollen Raum in Ruhe zu essen, nur leise Geräusche zu hören, wie das Kratzen vom Besteck im Teller, ein Stuhl rücken, später das Abwaschen. Die Gedanken waren einfach beim Essen, beim Geruch von heissem Kaffee, tja unerwartet musste ich nicht auf meinen Morgenkaffee verzichten.

Das erste Mal richtig genug – die Wende

Am Mittag vom ersten Tag, nach über vier Stunden meditieren, hatte ich das erste Mal genug. Es war nicht mehr sonderlich bequem und ich hatte mich bis jetzt kaum mehr als 20 Sekunden auf meinen Atem konzentrieren können, ohne wieder in Gedanken abzuschweifen.

Ich hatte mir vorgenommen, mich in jeder längeren Pause, draussen an der frischen Luft zu bewegen. Damit auch in dieser Zeit möglichst wenig Sinneseindrücke entstanden, war das Ausgangs-Rayon auf den Parkplatz und die Zufahrtstrasse zum Haus begrenzt. Der Maschendrahtzaun als Trennung zum Bahndamm war nur einen Meter hoch, er kam mir aber wie eine Gefängnis-Umzäunung vor.

Beim Abendvortrag hörte ich den Vorschlag, die Achtsamkeit der Meditation in die Pausen mitzunehmen. Zuerst hat mich das völlig gestresst, jetzt meditieren wir 10 Stunden am Tag und das soll in der Pause noch weitergehen, hallo! 

Dann habe ich es trotzdem gemacht und es hat alles verändert. Alles wurde langsamer, ich konnte den Weg zum Pausenraum, das Tee trinken, das Essen, einfach alles geniessen, ohne irgendwelche Erwartungen oder Zeitdruck. Erst jetzt war ich angekommen. Durch die maximale Reduktion der Sinneseindrücke wurde alles Verbleibende intensiver.

Im Flow

Am zweiten Tag besserte sich meine Konzentration erheblich. Ich konnte längere Phasen bei meiner Atmung bleiben und plötzlich war meine Wahrnehmung extrem klar. Ich war nur noch mein Atem, hinter meinen geschlossenen Augen wurde es ganz hell, es war alles ganz mühelos und fühlte sich sehr schön an. Diese Art von Flow-Zustand kannte ich bisher nur aus dem Sport. In einem späteren Vortrag wurde dieser Effekt erwähnt. Es ist ein Zeichen von guter Konzentration, man sollte diesen Zustand aber nicht erwarten oder darin schwelgen, weil damit der weitere Fortschritt eher behindert wird.


Vipassana Bodyscan

Am Nachmittag des dritten Tages wurden wir in die eigentliche Vipassana Meditation eingeführt. Vorher hatten wir uns beim Atmen "nur" auf Punkt zwischen Nase und Oberlippe konzentriert, dort den Luftstrom der Ein- und Ausatmung wahrgenommen. Jetzt führten wir einen Bodyscan durch, d.h. wir reisten mit der Aufmerksamkeit durch die einzelnen Körperteile vom Kopf bis zu den Fusssohlen und zurück. Zwischendurch werden auch grössere Teile z.B. der Kopf, die Arme oder die Beine als Gruppe wahrgenommen. Am Schluss wird die Aufmerksamkeit auf den ganzen Körper ausgedehnt und dort einzelne Empfindungen wahrgenommen, von starken bis ganz subtilen z.B. ein leichter Schmerz im Bein, eine Spannung am Nacken, trockene Lippen usw. Mit der Zeit kann man beobachten, wie Empfindungen erscheinen und wieder verschwinden, auch ohne Bewegung oder ein Kratzen. Dieser Prozess ist auch eine Metapher für den Kreislauf von Geburt und Tod bzw. wie Bedürfnisse entstehen und wieder verschwinden, ohne dass diese befriedigt werden.

Einfach Beobachter – getrennt von den Schmerzen

Während einer solchen Wahrnehmungs-Phase hatte ich eine kurze Mini-Erleuchtung: Im Nacken zeigten sich heftige Verspannungen. Ich versuchte diese einfach zu beobachten. Die Verspannung blieb hartnäckig. Ich versuchte weiter loszulassen, nichts dagegen zu tun, das unangenehme Gefühl einfach anzunehmen. Und plötzlich veränderte sich meine Wahrnehmung. Ich war geerdet und fest in meinem Körper verankert, aber die unangenehmen Empfindungen waren nicht mehr Teil von mir, ich war der reine Beobachter, konnte sehen, wie die Verspannung zum Arm wanderte, dann zum Rücken. Es war absolut mühelos und angenehm. Ich musste mich nicht mehr anstrengen, sondern hatte kein Bedürfnis mich zu bewegen, um den Schmerz erträglicher zu machen oder zum Verschwinden zu bringen. Das muss ich mir für den nächsten Zahnarztbesuch merken, dann kann ich mir die Spritze sparen.


Im Rhythmus des Gongs

Im Meditationsraum hatte jeder seinen Platz, ein mit Malerklebband markiertes Quadrat von ca. 80cm. Männer rechts, die Frauen links, vorne meistens unser Lehrer oder die Lehrerin. Der Raum war abgedunkelt, nur ein paar Kerzen brannten. Es herrschte grosse Ruhe, man hörte kaum den Nachbar atmen, eher noch die Strömung vom Wasser im Heizradiator. Zwischendurch musste jemand Husten, die Position wechseln oder selten dringend auf die Toilette. Einmal kippte der Kollege hinter mir auf die Seite, wahrscheinlich war er eingeschlafen. Für den Rhythmus gab es jede halbe Stunde einen automatischen Gong. Mit der Zeit konnte ich die Zeitspanne recht gut einschätzen, ein paarmal ertönte dieser sogar vor meiner Erwartung und mehr als einmal war ich überzeugt, der Gong sei defekt. Zwei Personen hatten das Ämtli in den Pausen durchzulüften. Auch für die Kerzen, den Morgen-Gong und Unterstützung in der Küche hatten sich Teilnehmende mit Erfahrung freiwillig gemeldet. Ich war sehr dankbar, keinerlei Verpflichtungen zu haben.


Eine andere Welt

Zweimal die Stunde brauste gleich neben dem Parkplatz der Regionalzug Biel – La Chaux de Fonds vorbei, praktisch die einzige Erinnerung, dass es da draussen noch eine andere Welt gibt – ausser am Silvester kurz nach 12 Uhr mittags. Zum ersten Mal kam bei meinem Spaziergang ein Auto um die Kurve und parkte vor dem Eingang. Es war gelb und auf der Seite stand "La poste". Eine Frau stieg aus, trug ein grosses Paket die Treppe hinauf und klingelte an der Türe. Eigentlich ganz normal, aber für mich zu diesem Zeitpunkt irgendwie surreal.

 

Sehnsucht

Am Morgen des 1. Januar beim Frühstück hatte ich Sehnsucht nach meiner Familie, danach meine Frau und meine Kinder wieder einmal zu sehen, sie in die Arme zu nehmen. Oder auch einfach mit den Menschen am Tisch zu sprechen oder ihnen wenigstens in die Augen zu schauen. Am Mittag auf meinem Spaziergang stand oben bei der Kurve, wo der Weg in den Wald führt, ein schwarzer Toyota Yaris, exakt das gleiche Modell wie unser Familienauto zuhause.

Der Geist ist ständig auf der Suche nach Befriedigung

Die Phasen von guter Konzentration und Phasen mit Gedanken ohne Ende lösten sich ab. Das ist auch wissenschaftlich mit dem 2. Hauptsatz der Thermodynamik begründet: "Jedes lebende System strebt nach dem kleinsten Energieaufwand." Dösen und Tagträume verbrauchen anscheinend weniger Energie, als die wache Konzentration auf den Atem. Mehrmals kam ich an den Punkt, an dem ich alles hinterfragte. Ich kenne viele andere Tätigkeiten, die in mir Glücksgefühle auslösen, die mit weniger Anstrengung und Aufwand verbunden sind. Hat diese extreme Form wirklich einen nachhaltigen Effekt? Oder ist das nicht einfach sinnlos sich hier abzumühen? Was könnte ich in dieser Zeit alles erledigen oder planen oder einfach ein Buch fertiglesen, eines von diesen fünf, welche ich parallel angefangen habe und im Alltag einfach nicht die Zeit finde weiterzulesen. Der Verstand hatte wieder die Führung übernommen. In der Meditation geht es nicht um Befriedigung oder Erledigung, sondern ums Loslassen und Erkennen.

Ayya Khema, eine Deutsche buddhistische Nonne sagte: "Der Geist ist ständig auf der Suche nach Befriedigung". Dieser Satz hat mich tief beeindruckt. Das hört nie auf, sobald ein Bedürfnis befriedigt ist, kommt gleich das Nächste. Die Meditation ist eine Möglichkeit, sich diesem pausenlosen Trieb bewusst zu werden und den Kreis zu unterbrechen. Für mich gilt nicht das Ziel, keine Bedürfnisse mehr zu haben bzw. alleine als Asket im Wald zu leben. Wenn ich mir aber im Klaren bin, dass die meisten meiner Bedürfnisse temporär sind und früher oder später sowieso wieder vergehen, dann kann ich mir eine Menge Stress ersparen: den Beschaffungsstress, die Angst etwas zu verlieren, den Stress nach Anerkennung, den Stress keine Fehler zu machen usw. Ich kann mir trotzdem Dinge kaufen, Freude haben und geniessen, einfach freiwillig, d.h. ich muss nicht, ich wäre auch glücklich und zufrieden OHNE.


Emotionen und Erkenntnisse

Die Stunde nach dem Mittag war jeweils Geh-Meditation. Man setzt so achtsam wie möglich einen Fuss vor den anderen und versucht, in die gleiche Gedankenlosigkeit zu kommen. Und in der zweiten Stunde war eine geführte Metta-Meditation. Am Anfang der Stunde erzählte Christiane jeweils ein paar lustige Geschichten von Mönchen z.B. von Ajahn Brahm. Ich weiss nicht mehr, um was es bei der Geschichte ging, aber ich hatte die Erkenntnis, dass hinter jeder meiner Konfliktsituationen die Angst steht, nicht mehr geliebt zu werden. Dann muss ich mich rechtfertigen, unwissend oder unschuldig zu sein. In der folgenden Meditation hatte ich sehr starke Emotionen der Verbundenheit mit allem was ist – und ich wusste, ich hatte diese Angst verloren. Später hat mein Verstand dies angezweifelt. Ob es wirklich so ist, wird meine nächste schwierige Situation zeigen, d.h. meine Reaktion darauf.

Vom edlen Schweigen zum edlen Sprechen

Am Nachmittag des achten Tages war bei mir die Luft raus. Ich hatte mir die Küche im Seminarhaus genauer angeschaut und plante jetzt während der Meditation den Umbau der Casa Babetta Küche. Immer wieder nahm ich einen Anlauf, mich zu konzentrieren, aber dieser Antrieb vom Verstand, verschiedenste Varianten zu erfinden und diese zu vergleichen, hatte eine unwiderstehliche Anziehungskraft. Um 17 Uhr wurden wir über den restlichen Verlauf vom Retreat informiert und dann wurde das edle Schweigen gebrochen. Die Umstellung, wieder miteinander zu sprechen, war fast noch ungewohnter als das Schweigen selbst. Obwohl jeder von uns in sich gekehrt war, habe ich die anderen wahrgenommen, mich als Teil der Gruppe gefühlt. Es war eine starke Form von gegenseitiger Rücksichtnahme und füreinander da sein. Eine komplett andere Erfahrung, als wenn der Anfang des Kennenlernens sich um die Fragen von Beruf, Hobbies und Familie dreht. Die letzten fünf Stunden Meditation waren dann wieder relativ ruhig, mit viel Gelassenheit.

Respekt vor dem Alltag – was bleibt?

Vor der Rückkehr in den Alltag hatte ich grossen Respekt. Würde bald wieder alles beim Alten sein, wieder im Alltagsstress, getrieben von den Pflichten? Das Wiedersehen mit der Familie und das Wochenende war voller Harmonie. Die Kinder hatten ein paar schwierige Situationen, aber ich war total gelassen und konnte sie gut durch ihren Frust begleiten. Auch der Wiedereinstieg in die Arbeitswelt war anders als sonst. Wie üblich lief kaum etwas nach Plan. Ich war ohne Erwartungs- und Zeitdruck aber nicht langsamer, eher effizienter. Allgemein bin ich dankbarer, gelassener, mehr bei dem was ich wirklich mache und lasse mich kaum mehr aus der Ruhe bringen. Auch die Smartphone-Pause hat meine Bildschirmzeit nachhaltig verkürzt.

Der mittlere Weg zwischen den Extremen, wie in Buddha vorgelebt hat, ist aus meiner Sicht sehr individuell. Jeder steht an einem anderen Punkt, ich muss selber für mich entscheiden, was für mich stimmt, damit ich auch mit den Konsequenzen leben kann. Dazu kann ich mich von anderen inspirieren lassen, die Entscheidungen sind aber nicht delegierbar. Wie öfter ich erlebe, dass ich mich auf meinen inneren Kompass verlassen kann, desto grösser wird mein Selbstvertrauen.

Es war für mich eine spezielle Erfahrung, jedem würde ich das nicht empfehlen. Es braucht eine rechte Portion innere Motivation, damit man sich nicht von den Launen des Verstandes verunsichern lässt. Wenn es dich aber anspricht, dann kann ich das Angebot der Yoga University in Villeret sehr empfehlen.