Meine Herz-Geschwindigkeit

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Auszeit vom 4. bis 8. September 2022

Vier Tage nur für mich. Die Woche war schon lange reserviert. Ich wusste einfach, dass ich viel Zeit draussen verbringen wollte, mehr nicht. Was die Nasenatmung mit meiner Herz-Geschwindigkeit zu tun hat und wie ich ohne Plan, das auf dem Weg entstandene Ziel erreicht habe, erfährst du in den nächsten neun Minuten.

Ich hatte geplant um 13 Uhr zu starten, doch es wurde 14:30, weil alles einfach seine Zeit brauchte. Am Schluss hatte ich noch Stress, weil ich nicht wusste, wohin ich das Zug-Billet lösen muss, dazu später mehr.

Nur ein paar Schritte von der Bergstation Niederrickenbach hängt die kleine Gondel für die Fahrt auf die Ober-Musenalp. Bereits auf dieser Gondelfahrt kam ich mit der Melkerin und dem Käser der Ober-Musenalp ins Gespräch, fühlte mich schon fast als Einheimischer.

Hinter dem Stall montierte ich die Teva-Sandalen an den Rucksack und spazierte Barfuss über die weiche Wiese Richtung Musenalper Grat. Später traf ich eine indische Familie. Ihr BnB-Gastgeber hatte ihnen den Insider-Tipp gegeben. Sonst war ich allein, genoss die Abendsonne und hatte das erste Mal in dieser Auszeit das Gefühl, unendlich viel Zeit zu haben. Davor hatte ich auch Respekt, völlig unnötig, wie sich herausstellte. Eine flache Ebene zum Schlafen fand ich nur ganz oben. Weil auf der Krete üblicherweise der Wind am stärksten ist, war ich skeptisch, entschied mich aber trotzdem zuoberst mein Mätteli aufzublasen und den Schlafsack auszupacken. Das Bergklima war gütig mit mir, die Nacht war angenehm mild.

Der Sonnenaufgang startete perfekt, mit der richtigen Menge Bewölkung, damit sich die ganze Farbpalette darin austoben konnte. Nach der Meditation versuchte ich zu lauschen, wo es weiter geht. Meine Absicht für die nächsten paar Tage wurde klarer: offen und neugierig meiner Intuition zu folgen, meinen ganz persönlichen Weg, im aktuell passenden Tempo zu gehen. Und mit Kinderaugen die Welt zu sehen, wie es SEOM am Freitag am Konzert in Luzern so schön formulierte. Und ich wollte zwischen Gewohnheit und echten Bedürfnissen unterscheiden

Auf der Zugfahrt hatte ich bei allen Apps auf meinem Smartphone mobile Daten und Meldungen ausgeschaltet, ausser Swisstopo, Wetter, SBB und Browser, persönlich limitiert für Öffnungszeiten von Bergbahnen und Alpwirtschaften.

Es zog mich Richtung Klewenalp. Auf der Swisstopo-App zeigte es mir 4.7 km, eine Stunde 20 Minuten an. Ich marschierte los, natürlich nicht ohne Halt bei der Alpwirtschaft Musenalp. Ich war um halb acht nicht der erste Gast, zuerst dachte ich, es sei der Älpler. Eine grosse Kachel Kaffee stand auf dem Tisch, die Flasche Träsch daneben und die Wirtin servierte ein Paar Rauchwürste mit Brot. Das sei wahrscheinlich das Einzige, was er heute Warmes kriege, weil er im steilen Hang einem Kollegen helfe, die Zäune "abelo". Ich bestellte einen normalen Kaffee.

Ich hatte schon bezahlt und den Rucksack gepackt, als die Wirtin mit Kreide "frische Nussgipfel" auf die Tafel schrieb. Da konnte ich nicht widerstehen und habe mich nochmals hingesetzt.

Der Weg Richtung Bärenfallen ist ein Paradies zum Barfuss laufen, teilweise gepflegter als unser Rasen zuhause. Im unteren Teil wurde der Weg steiniger. Ich wich auf die Wiese aus zu den Kühen. Wegen den Zaun-Abschnitten musste ich diesen häufig queren oder zurück auf den Weg, jedes Mal Rucksack ablegen, unten durch und wieder anziehen. Die Kombination aus barfuss Gehen, schwerem Rucksack und geniessen drosselte meine Geschwindigkeit drastisch. Dafür begegnete ich Menschen, die mich überholten. Mit einem älteren Mann hatte ich spannende Gespräche bis zur Klewenalp, z.B. über die Atmung. Ich hatte im Sommer das Buch "Breath" von James Nestor gelesen und war von seinen Ausführungen über die Nasen-Atmung fasziniert. Der Mann war zufällig Hals-Nasen-Ohren-Arzt. Auch über die Begleitung von Kindern und freies Lernen haben wir uns ausgetauscht. Mit leuchtenden Augen erzählte er mir, dass seine Frau noch studierte, als ihre Kinder in die Schule gingen und er jeweils längere Mittagspause machte, um die Kinder zu betreuen. Sie teilten dann exklusiv ihre Freuden und Sorgen aus der Schule mit ihm, und als am Abend seine Frau nachfragte, wollten die Kinder nichts wiederholen. Er liebte dieses Privileg. Sie seien sich nicht immer einig gewesen, z.B. beim Lernen von Instrumenten. Wenn die Kinder mit ihm regelmässig geübt hätten, könnten sie jetzt auch auf seinem Niveau in einer Kadetten-Formation spielen. Ich stellte die Frage, ob es denn wirklich auch der Herzwunsch der Kinder war, diese Instrumente zu lernen? Es dauerte einen kurzen Moment, dann lächelte er verschmitzt und meinte: "Ja, wahrscheinlich war das wirklich nur mein Wunsch". Und zu meiner These, dass Legasthenie dadurch entsteht, dass Kinder zu früh mit dem Lernen von Lesen und Schreiben unter Druck gesetzt werden meinte er: "Ich bin hochgradiger Legastheniker. Man prophezeite mir keine erfolgreiche Berufskariere, trotzdem bin ich Arzt geworden, kann mir aber nicht merken, ob man viel(l)eicht mit einem oder zwei L schreibt."

Auf der Klewenalp wählte ich eine etwas abgelegene Alpwirtschaft, ich wollte nicht zu fest in den Rummel. Es gab Apfelsaft von Möhl. Die Bedienung stellte mir in gebrochenem Deutsch eine Frage, was für mich wie "rot oder blau" beim Rivella tönte, dann wurde mir klar: "trüb oder klar" hatte sie gefragt, ich bestellte trüb. Die Suppenauswahl überzeugte mich nicht und so wechselte ich doch in ein grösseres Restaurant.

Von hier aus hätte ich runter an den See fahren können, aber es zog mich nach oben. Das Wetter meinte es gut und ich wollte nochmals einen Schlafplatz, bei dem man vom Liegen aus den Sonnen-Untergang und -Aufgang erleben konnte. Der Aufstieg war steil und der Weg wurde immer steiniger. Ausweichen war nicht möglich, weil es neben dem Weg noch mehr Steine hatte. Ich entschied mich die Schuhe anzuziehen, musste von der Vorstellung loslassen, den ganzen Weg barfuss zu gehen. Mir wurde bewusst, dass dies ein Ego-Ziel war. Was mache ich sonst noch, um mir oder anderen etwas zu beweisen, andere zu beeindrucken?

Mein Weg kreuzte sich mit einem älteren Jäger. Er war auf der Murmeli Jagd. Von weitem hätte er sie gesehen, jetzt aber über eine Stunde vergeblich gewartet. Ich fragte ihn, ob es denn zu viele hat und er meinte: "ja, die verlochen hier alles". In diesem steilen, kargen und steinigen Hang verirrten sich kaum Kühe und Rinder und ich bezweifelte innerlich, ob die Murmeli wirklich der Natur oder der Wirtschaftlichkeit der Älpler schadete, auch wenn es noch ein paar mehr wären.

Auf 2105 m erreichte ich das Hinter Jochli, der tiefste Punkt zwischen Schwalmis und Risetenstock. Das reichte mir. Der Schinberg mit 2145 könnte mir den Sonnenuntergang verdecken - vielleicht auch nicht - das Risiko ging ich ein – es klappte.

Auch hier gab es keine grosse Auswahl für zwei Quadratmeter ebene Fläche und auch hier konnte ich nach Hause blicken, die beiden Seen im Seetal sind einfach zu orten. Beim Rucksack auspacken entdeckte ich meinen grossen Kopfhörer. Hätte ich hier Gewicht sparen können? Und schon lief "In diesem Moment" von SEOM. Ich fühlte mich wieder im Konzertsaal und tanzte wild, ganz allein. Nur schon für diese 3:23 Minuten Sound hatte es sich gelohnt die 427 Gramm inkl. Verpackung hochzutragen.

Der Morgen war bewölkt, die Sonne zeigte sich nur knapp. Ich fühlte mich etwas müde und verspürte den Drang zu duschen. Die Moor-Seen überzeugten mich nicht, zu kalt. Dann hatte ich die Idee, im Berggasthaus Gitschenen zu fragen, ob man statt übernachten einfach nur duschen könnte.

Kurz nach dem Start begegnete ich zuerst einem Wildhasen und dann einem jungen Paar, das schnell unterwegs war. Sie hatten ganz in der Nähe von mir geschlafen und heute noch einiges vor. Sie erzählten mir von der Bergwanderung Richtung Seelisberg. Das schaute ich mir genauer an, weil ich mit dem Gedanken spielte, die nächste Nacht auf der Rütliwiese zu verbringen. Diese gehörte mir als Urschweizer ja auch ein bisschen. Nach der Betrachtung der Höhenmeter und der Distanz entschied ich mich dagegen und erinnerte mich an meine Absicht, meine Herz-Geschwindigkeit zu finden. Ich bin kein Wildhase auf der Flucht. Lustig wie mir das Leben meine Themen spiegelt. Was stört mich und was hilft mir mein Tempo zu behalten? Diese Frage gefiel mir. Ich überlegte mir sogar, statt nur nach einer Dusche, im Gitschenen nach einem Bett zu fragen.

Nach einer kleinen Pause, in der ich die taunassen Sachen an der Sonne trocknete, entdeckte ich einen kleinen blauen Schmetterling, den himmelblauen Bläuling, den ich schon auf der Musenalp gesehen hatte. Ich blieb stehen und er setzte sich auf meinen Fuss. Ich bewegte mich, setzte mich hin und der Schmetterling kam immer wieder zurück. Nach den Zeitstempeln auf den Fotos krabbelte er über zehn Minuten an meinem Fuss herum, bis mir eine ganze Schulklasse entgegenkam. Beim nächsten Mal Bezahlen schaute ich mir die 20 Franken Note genauer an. Hast du schon mal bemerkt, dass es da drauf drei Schmetterlinge hat, wobei einer zerschnitten ist und erst ganz wird, wenn man die Note zu einer Rolle formt?

Das Berggasthaus Gitschenen war geschlossen, Dienstag/Mittwoch Ruhetag. Ich trank einen Kaffee im Alpstubli und nahm um 12 Uhr die Gondel ins Grosstal runter. Auf der Tafel vor der Talstation St. Jakob entdeckte ich die zweite Musenalp, ca. 10km Luftlinie von der anderen Musenalp entfernt. Jetzt wurde mir klar, wieso ich am Sonntag verwirrt war bei der Suche nach der schnellsten Anfahrt. Bis zur Abfahrt vom Postauto Richtung Altdorf hatte ich 35 Minuten Zeit. Gleich neben dem Parkplatz rauschte der Isenthalerbach. Ich zog meine Badehose an, packte die Naturseife von Andrea Ziegler und nahm ein Bad im Bergbach, kostenlos und erfrischender als jede Dusche.

Die Postautostrecke runter zum Urnersee ist spektakulär. Ich bin immer wieder fasziniert von diesen Fahrern, die ausgewachsene Postautos sanft und ohne Korrektur um diese engen Haarnadelkurven steuern und sich dabei noch mit Passagieren unterhalten.

Der Weg von hier aufs Rütli passte mir nicht und ich löste ein Billet nach Weggis. Mein Ziel war Vitznau, das verwechsle ich immer mit Weggis, aber weniger weit fahren ist erlaubt. Im Hotel Terasse am See bestellte ich eine Marroni Suppe. Ich teilte den Tisch mit Roland aus Frauenfeld, der mit fast dem gleichen 20 jährigen Mammut-Rucksack in die andere Richtung unterwegs war. Unter der gedeckten Terrasse war es herrlich den warmen Regen zu betrachten. Laut dem Wetterradar hatte ich jetzt zwei Stunden Zeit trocken bis zum Nachtlager zu kommen. Den Weg kannte ich von früher und ich war zuversichtlich rechtzeitig das Ziel zu erreichen. Wie so oft in letzter Zeit veränderte sich das Wetter schneller als das Update vom Radar. Ich spürte Energie, der Rucksack fühlte sich leicht an und ich tauschte mein Ziel für Morgen: Seebodenalp statt Weggis. Weil aller guten Dinge drei sind, fand ich jetzt noch die Müseralp auf der Rigi. Der Wegweiser zeigte zweimal 1h15, für Seebodenalp und für Rigi Kaltbad. Seebodenalp war weiter, dafür flach, Rigi Chänzeli näher, dafür 450 Meter höher gelegen. Ich hatte keine Zweifel, ich wollte nach oben. In regelmässigen kurzen Pausen ass ich seit Vitznau den dritten Riegel, genau für das hatte ich den Notproviant die ganze Zeit mitgeschleppt.

Die Metalltreppen leuchteten im Abendlicht gegen oben richtig hell und sahen aus wie Treppen in den Himmel. Ich atmete konsequent nur durch die Nase und fand dadurch genau mein Tempo. Nachdem ich bis jetzt zwei- bis dreifach die angeschriebene Zeit brauchte, unterschritt ich dieses Mal die Vorgabe um 10 Minuten. Um halb acht traf ich beim Chänzeli ein und hatte genügend Zeit die Kleider zu wechseln um trocken und warm den Sonnenuntergang zu geniessen. Es war für mich eine super Erfahrung zu erleben, wie leicht sich alles anfühlt, wenn ich mich den Rhythmen meines Körpers und meiner Psyche anpasse. Heute Morgen hatte ich mich etwas widerwillig darauf eingelassen, in Gitschenen zu übernachten und am Nachmittag hatte ich mit Leichtigkeit über 1000 Höhenmeter mit meinem 16 kg Rucksack bezwungen.

Jetzt, wenn ich das schreibe, habe ich das Wochenende und zwei Arbeitstage hinter mir. Ich konnte relativ gut mein Tempo beibehalten und mit dem Fokus im Moment bleiben. Das fühlt sich super an, da will ich unbedingt dranbleiben.

Für die Übernachtung in der Nähe von Rigi Staffel habe ich meine Zeltblache gespannt. Diesmal recht geschützt zwischen Wald und Hügel. Trocken geblieben bin ich, aber der Wind war laut, wie er heftig mit dem Zeltstoff gespielt hat. Am Morgen habe ich mir Wellness im Mineralbad Rigi gegönnt und dann ging es runter Richtung Seebodenalp. Nach dem Chänzeli überholte ich ein älteres und ein jüngeres Paar. Ihre Geschwindigkeit war sehr ähnlich wie meine, aber ich wollte ihnen nicht an den Fersen kleben. So überschritt ich für einen Moment meine Herz-Geschwindigkeit. Weil es talwärts ging, war es nicht streng, aber ich musste mich konzentrieren wegen dem nassen Untergrund und merkte, dass ich das Wandern und die Umgebung gar nicht richtig geniessen konnte. Das nächste Mal mache ich Pause statt Tempo.

Auf dem Weg zur Seebodenalp kam ich an der Räbalp vorbei. Dort trank ich das gleiche wie der Obwaldner auf der Musenalp, ein grosses Chacheli Kafi Schnaps.

Die Atmosphäre und die Menschen fühlten sich gut an und weil auf der WetterApp heftige Gewitter angesagt waren, fragte ich für ein Bett. Ich hatte den ganzen Massenschlag für mich allein.

Der Wind hatte das grosse Trampolin beschädigt. Frau Greter, die Pächterin brachte neue Stangen und ein neues Netz. Ich konnte nicht nur zusehen, der Drang wieder einmal nützlich zu sein war stärker. Meine Unterstützung wurde sehr geschätzt, auch wenn es die drei Frauen auch allein geschafft hätten.

Beim Zmorge schälte die eine junge Frau Äpfel für Apfelmus. Sie fragte mich, ob ich ein Buch schreibe. Man wisse ja nie, wenn man einen bekannten Autor treffe. Ich hatte einfach viele Gedanken notiert. Meistens lese ich das nie mehr, aber schreiben hilft mir bewusst zu reflektieren.

Nach einem weiteren Schwatz an der Sonne vor der Alphütte fühlte ich mich erfüllt und machte mich auf den Heimweg. Zuhause angekündigt war ich für den Abend. Dank der guten Verbindung von Küssnacht am Rigi via Rotkreuz war ich schon um halb zwei in Hochdorf und holte dort meinen Stromer vom Service ab. Zuhause war noch Casa Babetta-Betrieb und ich konnte einen Jungen in der Werkstatt unterstützen, das Mühlespiel für seinen Vater fertig zu bauen. Das Timing passte also wunderbar.

Nach meinen 88 Stunden allein im Wald im 2021 und diesem kleinen Abenteuer plane ich die Woche für mich ganz allein für Herbst 2023 wieder fest ein.

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Wie und wo nimmst du dir Zeit nur für dich allein?

Was hilft dir deine Herz-Geschwindigkeit zu finden und zu behalten?

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